Die gefesselte Hochschule – Irrtümer und Befreiungsschläge in der Hochschulpolitik bis heute

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Uwe SchlichtUwe Schlicht
Journalist

„Die entfesselte Hochschule“ – diesen Titel hat Detlef Müller-Böling einem Buch gegeben, das im Jahr 2000 erschienen ist. Es handelt sich um eine Streitschrift für eine radikale Hochschulreform. Wenn Hochschulen erst entfesselt werden müssen, damit sie zu vorbildlichen Leistungen in Forschung und Lehre befähigt werden, dann stimmt etwas nicht in der Wissenschaftspolitik.

Die Hochschulen in Deutschland waren länger gefesselt, als es viele Professoren in ihrer Sehnsucht nach der „guten alten Ordinarienzeit“ wahrhaben wollen. In Wirklichkeit waren die Hochschulen nicht erst seit dem ausufernden Staatsdirigismus der 1970er und 1980er Jahre gefesselt, sondern schon vorher. Als sie endlich die Stricke sahen, die ihnen die Bewegungsfreiheit genommen hatten, waren sich die Hochschulangehörigen quer über alle politischen Gruppierungen einig: Der Staat hat die Fesseln angelegt. Der Staat nahm seitdem im Bewusstsein vieler eine Doppelrolle ein: Er war der gemeinsame Gegner, den man umwarb, solange man sich eine Chance auf mehr Geld ausrechnete, und den man verdammte, wenn er den Hochschulen erneut einen Sparkurs aufnötigte. Handlungen oder Unterlassungen des Staates boten ein bequemes Alibi für die Hochschulen, um sich vor der Selbstreform zu drücken.

Schon die alte Ordinarienuniversität hatte ihre Fesseln: Sie gab alle Rechte den Ordentlichen Professoren. Bereits die außerplanmäßigen Professoren saßen am Katzentisch, die Privatdozenten waren Hungerlöhnen ausgesetzt und hangelten sich von Lehrauftrag zu Lehrauftrag. Eine berechenbare wissenschaftliche Karriere gab es nicht. Und die wissenschaftlichen Assistenten mussten sich den Ordinarien gefällig erweisen, wenn sie eine Karriere anstrebten, die nicht in der Privatdozentur endete. Die Universitäten erkannten diese Fesseln nicht, weil sie sich am Selbstverständnis einer Eliteeinrichtung orientierten, deren Modell um 1810 von Wilhelm von Humboldt für wenige Hundert Studenten erdacht worden war. Nach diesem Modell hatte die Universität allein der Wahrheitssuche und der reinen Wissenschaft zu dienen, nicht jedoch dem Brotstudium. Der Staatsdiener sollte zwar das Resultat sein, aber nur nach einer zweckfreien Wahrheitssuche im philosophischen Geiste.

Als 1957 der Sputnik aus dem Weltraum piepte und die westlichen Gesellschaften aufrüttelte, war die deutsche Hochschullandschaft mit ihrem Binnenblick auf die glorreiche wissenschaftliche Vergangenheit unbeweglich geworden. Wenn man nicht mehr für fünf Prozent eines Geburtsjahrgangs ausbilden sollte, sondern demnächst für 15 bis 20 Prozent, dann musste diese Expansion die Fesseln der alten Ordinarienuniversität sprengen. Die führenden Industrieländer des Westens hatten diese Expansion schon geplant oder bereits vollzogen, als sich Georg Picht, Ralf Dahrendorf, Hildegard Hamm-Brücher und Paul Mikat anschickten, die deutsche Bildungspolitik als Bildungskatastrophe zu brandmarken. Der neue Aufbruch stand unter der Forderung „Bildung ist Bürgerrecht“.

Leider wurde dieser Aufbruch in andere Bahnen gelenkt. Die Revolte der Studentenbewegung von 1968 brachte zwar eine Befreiung von alten Fesseln. Doch schon nach kurzer Zeit zeigten sich die neuen Fesseln einer neomarxistischen Ideologie. Die Forderung nach Drittelparität für Studenten, Assistenten und Hochschullehrer in den Gremien bot unter den Bedingungen der Ideologisierung kein Reformkonzept mehr im Sinne der Wissenschaft. Vielmehr hatten sozialistische Fantasten die berechtigten Forderungen der Studenten nach einer Hochschul- und Studienreform missbraucht. Sie wollten die Autonomie der Hochschulen benutzen, um in Seminaren die totale Gesellschaftsveränderung vorzubereiten und in jedem Semester erneut unter den Studienanfängern Gefolgsleute für die sozialistische Revolte zu rekrutieren. Autonomie war in ihrer Sicht als rechtsfreier Raum zu nutzen.

Die Reform von 1968 hatte zwei Seiten: Natürlich war der Grundgedanke der Politiker richtig, dass eine Hochschule, die 15 bis 20 Prozent eines Jahrgangs auszubilden hat, ganz anders geplant werden muss als eine Ordinarienuniversität. Bildungs- und Hochschulpolitik konnte nicht mehr von der allgemeinen Gesellschafts- und Wirtschaftspolitik getrennt werden. Solange die Bundesrepublik ihren inneren Zusammenhalt dem Lebensstandard verdankte, war der Aufstieg durch Bildung auch das Gegenmodell zu einer Klassengesellschaft und zur sozialistischen DDR. Nur wollten die konservativen Professoren von moderner Gesellschaftspolitik nichts wissen – jedenfalls gehörte sie nicht in die Hochschulen.

Selbst die ideologiefreie, durchrationalisierte neue Hochschule, wie sie der Wissenschaftsrat mit seinen Expansionsempfehlungen befürwortete, brachte neue Fesseln. Die Expansion war schon nach kurzer Zeit, spätestens nach dem Ölpreisschock von 1973, unterfinanziert und wurde damit de facto nicht mehr geplant, sondern dem Wildwuchs überantwortet. Die 1977 von den Ministerpräsidenten beschlossene Öffnung der Hochschulen für den Andrang der geburtenstarken Jahrgänge schlug in dem Augenblick in ein Desaster um, als ihr eine entsprechende Finanzierung versagt blieb. Die Finanzierungslücke summierte sich bis in die 1990er Jahre auf acht Milliarden Mark.

Der Staat reagierte auf den Missbrauch der Mitbestimmung und die Gefahr eines rechtsfreien Raums, den sich die Radikalen in der Gruppenuniversität schaffen wollten, mit Eingriffen. Seitdem bestimmten Staatsaufsicht, Rechtsverordnungen und Gesetze die Hochschulpolitik in vielen deutschen Ländern. Die Detailwut des Staates nahm den Hochschulen die Luft zum Atmen. Die nächste Fessel war geschnürt. Und in der Öffentlichkeit bereitete sich eine diffuse Angst vor dem langen Marsch der Marxisten durch die Institutionen aus. Und in Parlamenten und Zeitungen wurde vor einem akademischen Proletariat gewarnt.

Nachdem die schlimmsten Auswüchse der Studentenrevolte überwunden waren, führte die Sehnsucht nach innerem Frieden an einigen Universitäten zu einem Proporzdenken. Konservative und Linke erkannten, dass einzelne Fächer zu Reservaten bestimmter politischer Richtungen ausgebaut worden waren. Auf der Basis des Status quo wurde der Proporz zur Befriedungsstrategie. In die Präsidialämter und Rektorate zogen Repräsentanten der einst verfeindeten hochschulpolitischen Gruppen ein, um sich zu versöhnen oder zu belauern. Die Proporzuniversität entwickelte sich zu einer neuen Fessel in den betroffenen Hochschulen. In den Gremien wollte man die neue „heile Welt“ keinesfalls durch eine Analyse von Stärken und Schwächen der verschiedenen Fächer gefährden. Ob immer dieselben Fachbereiche stark oder extrem schwach bei der Einwerbung von Drittmitteln waren, ob die Studienzeiten jede gesetzliche Regelvorgabe von acht oder zehn Semestern sprengten, war dabei irrelevant. Mängel wurden verschwiegen, Rechenschaftsberichte der Präsidenten oder Rektoren an den Proporzhochschulen verkamen zu Hochglanzbroschüren.

Zum Ende der 1980er Jahre dämmerte es den Verantwortlichen in der Wissenschaft und Wirtschaft, in Bund und Ländern, dass es so nicht weitergehen könne. Eine große Hochschulreform war überfällig und diesmal sollten die Fehler früherer Reformen vermieden werden. Doch über Nacht kam die Wiedervereinigung und veränderte die Prioritäten. Zunächst mussten alle Hochschulen im Osten dem westdeutschen Modell unterworfen werden, bevor Mitte der 1990er Jahre die Forderung nach einer großen Hochschulreform immer lauter wurde. Wer sollte sie leisten? Die Kultusministerkonferenz war dazu nicht in der Lage, denn immer noch verteidigten die Sozialdemokraten die Gruppenuniversität und die CDU wollte sie überwinden. Die erforderliche Einstimmigkeit in der Kultusministerkonferenz war nicht zu erreichen. Der damalige Bundespräsident Roman Herzog versuchte es mit aufrüttelnden Bildungsreden. Die Zeit war reif für neue Denkschulen. Vor diesem Hintergrund ergriffen die Bertelsmanns Stiftung und die Hochschulrektorenkonferenz die Initiative und riefen im Jahr 1993 das Centrum für Hochschulentwicklung (CHE) ins Leben.

Um das Jahr 2000 setzte der Wissenschaftsrat mit seinen Empfehlungen zu einer Studienreform im Zeichen von Bachelor und Master einen Meilenstein. Nicht minder wichtig war die Aussage des Wissenschaftsrats, dass alle Ängste vor einer Akademikerarbeitslosigkeit im internationalen Vergleich unbegründet seien. Er empfahl eine Expansion der Studentenzahlen auf 30 bis 40 Prozent eines Geburtsjahrgangs. Heute ist das offizielle Regierungspolitik der Großen Koalition. Die Kultusministerkonferenz begleitete die Reformen, aber erfand sie nicht. Selbst die große Leistung der KMK, für die Schulreform Bildungsstandards zu definieren, war nur eine Reaktion auf Anstöße von außen. Die führenden Wirtschaftsnationen der Welt, zusammengeschlossen in der OECD, hatten in vergleichenden Tests für den Pisa-Schock gesorgt. Alle deutschen Länder und die Kultusministerkonferenz mussten reagieren.

In der Hochschulpolitik bahnte die Humboldt-Universität unter ihrem Präsidenten Hans Meyer den Weg zur Gremienreform. Die Freie Universität Berlin folgte. Niedersachsen empfahl die Einführung von Hochschulräten. Die Technische Universität München wurde in Bayern der Reformmotor.
Und das Centrum für Hochschulentwicklung (CHE) entwickelte sich zu einer unverzichtbaren Instanz in der Wissenschaftspolitik. Natürlich wird das Centrum von den Linken seit seiner Gründung als neoliberal beschimpft. Die empfohlene Mitwirkung von Managern aus der Wirtschaft in den Hochschulräten passt weder den Linken noch den Konservativen. Weitere Steine des Anstoßes boten die Studienführer des CHE, die für alle Fächer und Hochschulen nach klaren Kriterien erstellt wurden. Sie lösten bei etlichen Hochschulen, die den Vergleich zu fürchten hatten, einen Schock aus. Die Dienstrechtsreform, ebenfalls vom CHE empfohlen, rüttelte an Besitzständen der Wissenschaftler.

Das CHE hatte keinesfalls im Sinn, Universitäten wie Schraubenfabriken betriebswirtschaftlich durchzuorganisieren. Dennoch fehlte es nicht an solchen Vorwürfen. Die Wirtschaft darf zwar Drittmittel geben, aber ansonsten nicht in die Hochschulen hineinreden. Auch die Konservativen wollten sich nicht mit der Idee anfreunden, dass das Kollegialitätsprinzip ein Hindernis auf dem Weg zur Hochschulreform darstellt. Weiterhin sollte keine Krähe der anderen ein Auge aushacken. Nach wie vor wurden die Selbstheilungskräfte der Scientific Community beschworen. Die Konservativen kämpften bis zum Bundesverfassungsgericht gegen starke Dekane, die auf keinen Fall auch nur in begrenzten Bereichen Weisungsbefugnis erhalten dürften. Der Dekan darf es sich im deutschen Selbstverständnis mit niemandem verderben, wenn er nach zwei Jahren wieder in den Kreis der anderen Professoren zurückkehren will. Für Präsidenten und Rektoren soll das gleiche Kollegialitätsprinzip gelten. So verschanzen sich viele immer noch hinter den doppelten Mauern der Wissenschaftsfreiheit und des Beamtenstatus.

Mit all diesen Sentimentalitäten hat das CHE aufgeräumt. Leitgedanke der Reformvorschläge war, wie man von den erfolgreichen Organisationsstrukturen amerikanischer Spitzenuniversitäten lernen könne, ohne sie komplett in Deutschland zu übernehmen. Heraus kam die Idee, die Präsidenten an den deutschen Hochschulen so stark zu machen, dass sie keine Wahlkapitulationen mehr abgeben müssen. Präsidenten oder Rektoren sollen nicht mehr allein von ihren Wählern in den akademischen Gremien abhängig sein. Das kann nur dadurch erreicht werden, dass Boards in Deutschland eingeführt werden, die als Hochschulräte oder Kuratorien den Sachverstand von außen hereinholen: den Sachverstand von Managern, Elder Statesmen und Persönlichkeiten aus Wissenschaft und Gesellschaft. Das CHE wollte Persönlichkeiten in die Hochschulräte holen und keinesfalls Funktionäre. Hochschulräte dieser Art wirken in den meisten Ländern inzwischen an der Auswahl der Präsidenten mit und sie beraten über strategische Entscheidungen wie Forschungsprojekte, neue Studiengänge, die Entwicklung der Hochschule im Ganzen.

Unter diesen Bedingungen kann der Staat es wagen, sich aus der Detailsteuerung zurückzuziehen und auf die Dynamik der neuen Entwicklung in Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft zu vertrauen. Die Kameralistik ist von gestern. Detlef Müller-Böling hat diese Ideen des CHE vehement in die Diskussionsrunden eingebracht. Für die Erfolge der neuen Politik spricht das Ergebnis des Elitewettbewerbs unter den deutschen Universitäten. Mit den alten Strukturen wäre dieser Wettbewerb nicht zu gestalten gewesen.

Sollte der Versuch einer Hochschule, sich nach innen und außen ehrlich zu machen, nur aus Anlass eines Wettbewerbs unternommen werden, dürfte es bald mit dem neuen Anlauf in der Hochschulreform zu Ende gehen. A und O der neuen Hochschulpolitik bleibt die Stärken- und Schwächeanalyse. Die Analyse von Stärken und Schwächen mit entsprechenden Folgen muss künftig in regelmäßigen Intervallen in Gang gesetzt werden. Bisher wurden solche Stärken- und Schwächeanalysen nur wie in Berlin durch extreme Sparauflagen des Staates erzwungen oder durch den Wettbewerb um die Exzellenz in der Forschung befördert. Das reicht für die Zukunft nicht mehr aus. Nicht zufällig hat der Wissenschaftsrat diese ehrlichen Analysen als Grundlage für die Bewertung des Zukunftskonzepts verlangt.

Was das CHE auf die Tagesordnung gesetzt hat, verdient nicht die Abwertung „neoliberal“. Vielmehr hat das CHE unter der Leitung von Detlef Müller-Böling die Konsequenzen aus jahrzehntelangen Fehlentwicklungen gezogen. Das CHE ist damit in der Hochschulpolitik genauso unentbehrlich geworden wie der Wissenschaftsrat. Wenn der Wissenschaftsrat nicht das sagen kann, was er eigentlich möchte, weil die Politiker in der Verwaltungskommission das verhindern, kann das CHE in die Bresche springen. Das hat sich beim Hochschulpakt gezeigt. Die Politiker wollten auf den bevorstehenden Studentenberg mit einer Finanzierung am untersten Rande des Erforderlichen reagieren. Experten im Wissenschaftsrat hatten ganz andere Kosten errechnet als die Politiker, nur durften sie ihre Berechnungen nicht veröffentlichen. Das CHE hat die Unterfinanzierung offengelegt. Nun muss sich zeigen, ob die Politiker bei der nächsten Verhandlungsrunde im Jahr 2009 die wahren Kosten berücksichtigen. Dann werden die Kenner wieder auf das CHE warten, bevor sie glauben, ob der Studentenberg bis zum Jahre 2023 ehrlich bewältigt werden kann. Es geht immerhin um zweistellige Milliardenbeträge.

Der Autor ist nach dem Studium an der Freien Universität Berlin seit 1962 Journalist beim Tagesspiegel. Seit 1971 verantwortlich für Bildung und Wissenschaft. Im Jahr 1975 Auszeichnung mit dem Wächterpreis der Tagespresse, 2002 Verleihung der goldenen Ehrenmedaille durch die Berliner Technische Universität, 2003 Verleihung der Ehrendoktorwürde durch die Freie Universität. Seit 2002 freier Mitarbeiter beim Tagesspiegel.

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