Prof. Dr. Michael Müller
Fachhochschule Südwestfalen
In den 70er und der ersten Hälfte der 80er Jahre des letztens Jahrhunderts war die von der Kölner Schule (im Wesentlichen Grochla, Szyperski, Müller-Böling) so genannte Automatisierte Datenverarbeitung (ADV) noch vollständig großrechnerorientiert. Über Listenausdrucke und Terminals wurde der Nutzen der Maschine kommuniziert, ganze Heere von Mitarbeitern waren mit der Dateneingabe beschäftigt, eine weitere zahlenmäßig starke Spezialisten-Truppe sorgte dafür, dass es dem Computer an nichts mangelte.
Der große, stromfressende, teure Zentralrechner stand irgendwo in einem klimatisierten Raum und verarbeitete Informationen. Die einzelne Sekunde Rechentätigkeit kostete nicht selten mehr als 1 €, eine Unzahl zuliefernder und abnehmender Quellen wie Bandstationen, Lochkartenleser, Listendrucker und Terminals sorgten für stetigen Nachschub an zu verarbeitenden Informationen oder nahmen die Ergebnisse auf. Unternehmen wurden umgebaut, um den Anforderungen, die der Betrieb eines Großrechners mit sich brachte, besser gerecht werden zu können, und die Ablauforganisation wurde wieder und wieder geändert mit dem Ziel, Dateneingabe, -verarbeitung und -ausgabe möglichst effizient abzuwickeln.
Die Manager hofften, von der Wissenschaft oft bestärkt, auf ein umfassendes Management-Informationssystem, das allen Informationswünschen schnell, präzise und erschöpfend nachkommen sollte. Information wurde zunehmend im Bewusstsein der Öffentlichkeit, ähnlich wie andere Ressourcen wie etwa Geld oder Zeit, als knappes und teures Gut betrachtet, das möglichst produktiv eingesetzt werden sollte.
Der Zentralrechner und seine Peripherie wurde von den oben bereits angesprochenen Spezialisten bedient, die ein, von den Computerherstellern heftig gefördertes, Spezialisten-Chinesisch sprachen, das Nichteingeweihte noch stärker ausschloss als dies bei vielen anderen Fachsprachen der Fall war.
In dieser technikorientierten Zeit war es ein durchaus mutiges und eher seltenes Unterfangen, sich als Betriebswirt auf die Anwender zu konzentrieren und zu fragen, wie sie die Arbeit mit und am Computer erlebten, sie damit zurechtkamen, welche Sorgen und Ängste, Hoffnungen und Wünsche sie mit dem Computer verbanden und wie sehr etwa die Anforderungen, die durch den Betrieb des Computers gestellt wurden, ihren Arbeitsalltag strukturierte und dominierte oder aber vereinfachte und beschleunigte.
Zwar war die Motivationsforschung schon weit gediehen, war erkannt, dass gegebenenfalls der Unwille von Mitarbeitern, mit dem Rechner zusammenzuarbeiten, die Produktivität der Arbeit insgesamt gefährdete, aber es gab kaum Instrumente, Willen oder Unwillen der Computer-Benutzer zur Kooperation mit der Maschine zu erfassen und messbar zu machen.
In dieser Zeit entwickelte Müller-Böling die ADV-Skala, mit der im Zusammenhang mit anderen Variablen wie informationstechnische Merkmale (technische Ausgestaltung der Mensch-Maschine-Interaktion), persönlichen Merkmalen der Benutzer (Alter, Geschlecht, Bildung etc.) organisatorische Merkmale (Handlungsspielräume bei der Arbeit mit dem Computer) im Rahmen eines Gesamtzusammenhangs festgestellt werden konnte, wie die Benutzer die Arbeit mit dem Computer empfanden, wo sie Stärken und wo sie Schwachstellen und Verbesserungspotentiale sahen.
Die ADV-Skala besteht aus 28 sorgfältig ausgewählten und getesteten Einstellungsitems, die den Befragten 5 Antwortvorgaben von „stimmt“ über „stimmt weitgehend“ und „stimmt vielleicht“ bis „stimmt weitgehend nicht“ und schließlich „stimmt nicht“ vorgibt, unter denen es jeweils eine auszuwählen gilt.
Auch heute, etwa 30 Jahre nach Entwicklung dieses Messinstruments, ist die ursprünglich zugrundeliegende Fragestellung weiterhin aktuell: Sind die Mitarbeiter, die an ihrem Arbeitsplatz mit EDV-Geräten arbeiten, diesen Arbeitshilfsmitteln gegenüber aufgeschlossen oder glauben sie, dass es durch den Einsatz der EDV zu starren Handlungsabläufen kommt, die die Benutzer auf eine nicht wünschenswerte Art und Weise einschränken und bevormunden – oder glauben sie vielleicht, die EDV biete so viele Optionen, dass ein unverhältnismäßig großer Anteil der Anstrengungen, die mit dem Job verbunden sind, auf Erwerb und Erneuerung der Kenntnisse gerichtet sind, die man zur Bedienung der Computer benötigt ?
Die EDV selbst hat sich in diesen etwa 30 Jahren auf eine aus damaliger Sicht kaum vorstellbare Weise weiterentwickelt. Galt in den 70er Jahren noch der Satz: Ein Funktionskomplex, der heute 1.000 $ kostet, wird in 20 Jahren 1 $ kosten, so hat sich diese Relationsverbesserung mit der Einführung der PCs zu Anfang der 80er Jahre auf etwa 15 Jahre gesenkt. Das ist pro 5 Jahre eine Zehnerpotenz! Die Geräte, die 2008 zum Einsatz kommen, sind also etwa 1.000.000-mal leistungsfähiger als die Geräte, die 1978 aktuell waren. Kostete z.B. eine Festplatte bei der Einführung des IBM-PCs im Jahre 1981 noch den Gegenwert von etwa 1.000 € und lieferte sie dafür eine Speicherkapazität von 10 MB, so ist heute für 100 € eine Festplatte mit 500 GB erhältlich, was einem Verbesserungsfaktor von 500.000 entspricht, die 30 Jahre sind aber auch noch nicht abgelaufen.
Die Frage ist nun, ob ein Instrument, das auf der Grundlage einer so dramatisch weniger leistungsfähigen Technik entwickelt wurde, auch für die Erfassung heutiger Anwendungsbedingungen noch aktuell sein kann.
Die Klagen der Anwender über die EDV haben jedenfalls grundsätzlich nicht abgenommen, einige Beispiele aus der Praxis der Diplomarbeitsbetreuungen:
Ein Standard-ERP-System wird eingeführt und die Mitarbeiter sind wenig erfreut darüber, dass die Organisation auf das Programm zugeschnitten werden muss
um das Programm auch zumindest teilweise auf die Organisation anzupassen, sind in so unterschiedlichen Tabellen Voreinstellungen zu ändern, dass allenfalls Spezialisten diese durchführen können – und man benötigt diese Spezialisten erneut für jede Änderung.
Schlimmer noch ist es, wenn es eigentlich zu Änderungen kommen müsste, man aber aufgrund des engen, aber eingespielten, EDV-Korsetts lieber bei den alten Verhältnissen bleibt
Die Informationen zu Fragen z.B. der Kostenrechnung sind entweder schon im System enthalten – oder die Fragen werden besser nicht gestellt
Ergebnis-Daten und Auswertungen sind aus so komplex miteinander verzahnten Prozessen entstanden, dass sie nicht hinterfragt werden können
die Qualität der Informationen im System ist unklar und schwer zu überprüfen
Untersucht man die einzelnen Items der ADV-Skala auf Aktualität, stellt man fest, dass sie erstaunlich gut auch auf die heutigen Anwendungsszenarien passen
Sehen wir uns dazu die ersten 10 Items genauer an:
Die EDV hat eine Reihe von unerwünschten Nebeneffekten für die Mitarbeiter hervorgebracht.
Dieses Item ist so aktuell wie vor 30 Jahren – es werden nur Nebeneffekte angesprochen, das kann Unterforderung genauso bedeuten wie Überforderung oder die Angst vor Arbeitsplatzverlust durch fortschreitende Rationalisierung.
Wenn ich es mir aussuchen könnte, wäre meine Tätigkeit ohne jede EDV.
Ebenfalls zeitlos formuliert. Es steht zu vermuten, dass durch die zunehmende Elektronisierung vieler Lebensbereiche durch PC, Handy, Digitalkamera, I-Pod, Blackberry etc. arbeiten ohne die Zuhilfenahme der EDV als „kreativer“, „künstlerischer“ und allgemein höherwertig angesehen werden. Für die Handys wurde der prägnante Satz gebildet: „Es gibt Sklaven und Herren, und die Sklaven haben die Handys an.“ Den könnte man sicherlich auch auf die EDV anwenden: „…die Sklaven schauen in einen Bildschirm.“
Die EDV bringt mir persönlich nur Vorteile.
Was zunächst als Formulierung verstanden werden könnte, die im Gegensatz zu 2) steht, bekommt durch Betonung von „mir persönlich“ zusätzliche Aspekte, Aspekte, die auch heute nichts von ihrer Gültigkeit verloren haben – ein nach wie vor aktuelles Item.
Die EDV hat sich häufig als unwirtschaftlich erwiesen.
Auch diese Meinung wird heute wie vor 30 Jahren ihre Vertreter haben – ein aktuelles Item.
Viele Arbeiten können gar nicht ohne EDV ausgeführt werden.
Eine heute scheinbar überholtes Item, weil es ja auf der Hand liegt, dass viele Arbeiten nicht ohne EDV ausgeführt werden können – das galt aber auch schon zur Zeit der Entstehung der Skala, auch damals waren Banken bereits stark vom Funktionieren der EDV abhängig, und dass die wenige Jahre vorher erfolgte Mondlandung ganz wesentlich durch die Mitwirkung von Computern gelungen war, war wohl weitgehend Allgemeingut im Bewusstsein der Bevölkerung. Die relative Position des Items zur tatsächlichen Abbildung der aktuellen Situation hat sich also kaum oder gar nicht geändert, hartnäckige Kritiker der EDV könnten versucht sein, auch heute trotz ggf. besserer Einsichten ein „stimmt nicht“ oder „stimmt weitgehend nicht“ anzukreuzen.
Durch die EDV wurde viel Arbeitslosigkeit verursacht.
Heute, mit einer wesentlich höheren Arbeitslosenquote als 1973, unverändert aktuell.
Der Einsatz von EDV-Anlagen sollte begrenzt werden.
Keine Forderung, die in der aktuellen politischen Diskussion sonderlich präsent wäre, aber das war sie 1973 auch nicht – also unverändert aktuell, und für EDV-Kritiker sicherlich ein Item, dem sie aus vollem Herzen zustimmen können.
Die EDV negativ beurteilen heißt, den Fortschritt negativ beurteilen.
Analog kann die Argumentation zu 7) auch hier angewendet werden, diesmal aus der Sicht der EDV-Befürworter, die nun ihrerseits aus ganzer Überzeugung zustimmen können.
Die EDV erleichtert die Arbeit der meisten Angestellten.
Zeitlos formuliert in Bezug auf die Gesamtheit der Benutzer – aktuelles Item.
Die EDV schafft keine wirklich großen Probleme.
Auch hiermit hat Müller-Böling ein Item formuliert, dass zwar gut zwischen Befürwortern und Gegnern der EDV zu unterscheiden vermag, dabei aber nicht an eine bestimmte Zeit gebunden ist.
Und das wird für die weiteren Items ebenfalls durchgehalten – die wesentlichen Themenkomplexe einer Einstellung zum Einstellungsgegenstand EDV wie Fortschritt (der ggf. zu schnell erfolgen kann), Entlastung, Probleme, Langeweile, Entwertung oder Verstärkung der eigenen Fähigkeiten, Abhängigkeit, Arbeitszufriedenheit, Transparenz der Arbeitsvorgänge, Arbeitsklima etc. werden angesprochen, wobei zum einen eine Reihe von Items auf Globalbewertung der EDV zielen, mal positiv, mal negativ formuliert, mal in Bezug auf die eigene Person, mal in Bezug auf die Allgemeinheit und zum anderen weitere Items spezielle Themenkomplexe ansprechen, die allesamt als besonders relevante Unterpunkte der Globalbewertung aufgefasst werden können.
Nur ein einziges Item ist durch den Fortschritt der Technik obsolet geworden. Es handelt sich um Item 27, das folgendermaßen formuliert worden ist:
27) Das Arbeiten mit Zahlen ist schwieriger als früher mit Buchstaben und Wörtern.
Diese Formulierung ist dem Umstand geschuldet, dass die EDV vor 30 Jahren weniger mit freien Formulierungen und Texten gearbeitet hat als heute und aufgrund der Beschränkungen bei der Kapazität der Informationsverarbeitung stärker vorstrukturiert war. Heute wird sicherlich wieder stärker mit Texten gearbeitet als mit Zahlen, das Item wäre für heutige Anwender unverständlich und müsste ersetzt werden oder könnte aus Gründen der Vergleichbarkeit mit früheren Untersuchungen entfallen.
Insgesamt gesehen ist festzustellen, dass es Müller-Böling gelungen ist, mit der ADV-Skala ein Messinstrument zu entwickeln, das heute wohl mit der gleichen hohen Validität zur Erhebung der Einstellungen von ADV-Benutzern eingesetzt werden kann wie vor 30 Jahren.