Prof. Dr. Udo Winand
Universität Kassel
Die Kernbegriffe dieses Beitrags reflektieren zwei, und also (zugegeben!) nur wenige Aspekte des Schaffens von Detlef Müller-Böling, wohl aber Aspekte, die in einer Reihe seiner folgenreichen und nachwirkenden Lösungsvorschläge zur Entwicklung, und das heißt bei ihm zur „Entfesselung“ von Hochschule tragend sind. Virtualisierungskonzepte für Lehren und Lernen zählen zu den Leitbildkategorien des von ihm ebenso vehement wie nachdrücklich betriebenen Entfesselungsprozesses. Die Notwendigkeit anstehenden und geforderten Veränderungsprozessen das Umfeld einer Vertrauenskultur zu gestalten, um Unsicherheiten und Ängsten, die Veränderungen stets hervorrufen, (konstruktiv) entgegenzuwirken, kann in vielen, sehr praktischen Lösungsansätzen des CHE entdeckt werden. Dies gilt z.B. für die vielfältigen Schulungs- und Beratungsangebote, die Kompetenz schaffen und damit eine der Grundlagen für Vertrauen, dies gilt speziell auch für die erfolgreich besetzte Position des (Vertrauens-)Intermediärs für Lehrende, Lernende, Politik, Wirtschaft und Gesellschaft im Hochschulranking.
Der folgende Beitrag präzisiert zunächst die Konzepte Vertrauen und virtuelles Lehren/Lernen, um abschließend die Rolle und Gestaltbarkeit von Vertrauen in virtuellen Lehr-/Lernarrangements zu skizzieren.
1. Virtualisierung
Virtualisierung kennzeichnet Aktivitäten, die zwar definierte Effekte erzielen, dies aber, gegenüber klassischer bzw. traditioneller Art, auf eine ungewöhnliche Weise bewerkstelligen. So wenn Dienstleistungen, die traditionell von einem Unternehmen mit klassischer Rechtsform, Organisations- und Führungsstruktur erbracht werden, von einem lose gekoppelten, zeitlich befristeten Verbund einzelner Kompetenzträger angeboten werden. Die Komposition dieser virtuellen Systeme ist ausschließlich auf den gewünschten Effekt orientiert. Von den realen Fragmenten der Raum-Zeit-Realität werden zu diesem Zweck nur die Funktionalitäten versammelt, die zur Erreichung der Wirkung benötigt werden. Diese Als-Ob-Orientierung von virtuellen Systemen verweisen auf ihr Verschlankungs- oder Rationalisierungspotential. Virtualität beinhaltet aber nicht nur die Chance, Leistung anders zu erbringen, sondern auch, qualitativ andere Produkte, Dienstleistungen, Entscheidungs- und Produktionsumgebungen mittels Medien- und Kommunikationstechnik zu schaffen. Diese Option bezeichnen wir als Imaginationspotential. Virtuelle Leitstände, Design und Konstruktion an virtuellen Modellen, Simulatoren, virtuelle Lernwelten eröffnen z.B. Optionen, über Informationsvernetzung kooperatives Planen, Entscheiden und Handeln in Erlebnis- oder Cyberwelten anschaulicher, interaktiver und effektiver zu gestalten.
Die instrumentale Basis zur Realisierung beider Potentiale stellen Medien- und Kommunikationstechniken, die Basis also für Kooperation/Koordination, für Simulation und Animation. Eine zentrale Rolle in diesem Kontext nehmen derzeit Internettechnologien und -dienste ein. Sie liefern relativ stabile und allgegenwärtige Plattformen um Virtualisierungspotenziale wie
- zeitliche und räumliche Entkopplung von Prozessen,
- Kompetenz-Bündelung und Abspecken von Marginalkompetenzen,
- Ressourcen-Sharing,
- einfache Konstituierung und einfache Auflösung,
- Simulation, Animation, Interaktion
alltagstauglich zu erschließen.
Erfahrungsobjekte für Virtualisierung können
- Produkte und Dienstleistungen,
- Prozesse,
- Organisationen (z.B. Unternehmen, Verwaltungen, Bildungsseinrichtungen),
- Märkte und,
- derzeit vieldiskutiert im Kontext von Web 2.0, soziale Gemeinschaften (communities)
sein.
2. Virtuelles Lernen und Lehren
Lernen, in konstruktivistischer Sicht, ist ein „Selbstorganisations-Prozess, in dem Wissensnetze neu aufgebaut, umgeordnet oder erweitert werden“ (Lück 1995, S. 30). Mentale Modelle der Lernenden beeinflussen, was wie in das vorhandene Wissensnetz integriert wird. Mentale Modelle entwickeln sich allerdings im Lernprozess dynamisch. Zusammen mit dem Lernertyp (siehe Vest 1996, S.121) und der erworbenen persönlichen Professionalität (personal mastery – Seng 1996) bestimmen sie wesentlich die Wissenskompetenz eines Menschen.
Virtuelle Lernwelten bestehen aus didaktisch aufbereiteten, i.d.R. multimedialen und modularen Wissensbausteinen sowie aus Betreuungs- und Serviceangeboten, die jeweils online zugänglich sind [WiKP 1996]. Virtuelle Lernwelten fördern die Virtualisierung der Wissensvermittlung und des Lernens, speziell ermöglichen sie es, Wissensvermittlung und Lernen zeitlich und räumlich zu entkoppeln. In institutioneller Perspektive bezeichnet diese Entkopplung den Verzicht auf spezielle Lernumgebungen wie Schulen, Universitäten oder Seminarräume. In funktionaler Perspektive sind Lern- und Lehrprozesse insofern zeitlich und räumlich entkoppelt, als lernrelevante Informationen und Kommunikationsverbindungen prinzipiell überall im Netz verfügbar sind und die flexible Verteilung von Lehr- und Lernprozessen erlaubt. Virtuell bedeutet aber auch, die Chancen, die Qualitäten der künstlichen Cyberwelten/-wirklichkeiten zu nutzen: Sinnen- und medienreichere Information und Kommunikation erleichtert den Zugang zu Inhalten, steigert die Möglichkeiten zu Interaktion und Experiment sowie die Adaptierbarkeit auf Lernertypen. Lernen und Lehren in virtuellen Lernwelten setzt allerdings in hohem Maße den Erwerb bzw. den Besitz von Medienkompetenz voraus (Mand 1995).
Die Vorteile solcher Lernwelten liegen darin, dass die Imaginations- oder Simula-tionspotenziale virtueller Lernwelten vielfältige Chancen zur didaktisch-pädagogi-schen Anreicherung, Belebung und Neugestaltung des Unterrichts eröffnen. Sie ermöglichen über intuitiv nutzbare Techniken der Informations- und Wissensver-netzung (Hyperlinking) den Aufbau von bzw. das Navigieren in lateralen Wis-sensräumen (Cyberspace). Sie erweitern die Interaktions- und Kommunikations-optionen von Lernern und Lehrern (Personen-Vernetzung) und damit die Chance, über entsprechend konzipierte Betreuungssysteme (EhSW 1998) gezielt die Nachhaltigkeit von Lernerfolgen abzusichern. Ferner können Lehre und Lernen – sowie die dazu-gehörigen Verwaltungs- und Betreuungsprozesse – zeitlich und räumlich entkop-pelt und damit flexibler auf die Nutzer maßgeschneidert werden. Damit wird Ler-nen, aber auch Lehren, für gänzlich neue Klientel zugänglich.
Die Virtualisierung von Lehren und Lernen kann entlang einer Reihe von Aspekten und ihren Ausprägungen präzisiert werden.
- Gestaltungsspielraum ergibt sich hinsichtlich des Personenkreises (bzw. des Rollenspektrums), der in die Virtualisierung einbezogen wird: Im Vordergrund steht die Unterstützung der Lernprozesse von Studierenden (die Wissensver-mittlung, die Wissensanwendung, die Interaktion zwischen Lernenden, zwi-schen Lernenden und Lehrenden) durch virtuelle Lernwelten. Virtualisierung umfasst aber auch den Support für Lehrende, für Administratoren und die Entwickler von Lernwelten, der jeweils spezifisch intensiv konzipiert werden kann.
- Die Virtualisierung von Lern-/Lehrprozessen kann ebenfalls (bestimmt durch didaktische Notwendigkeiten und Möglichkeiten) unterschiedlich angelegt werden. Sie reicht von der Unterstützung der Wissenspräsentation in der klas-sischen Präsenzlehre durch virtuelle Lernwelten (analog zu Textbüchern) über Mischformen von Präsenz- und Teleunterrichtsmodulen zum reinen Telebe-trieb.
- Auch der Grad der praktizierten Multimedialität bzw. der Kommunikationsunter-stützung eröffnet eine Vielfalt von Gestaltungsvarianten, deren Auswahl letztendlich pädagogisch motiviert sein sollte, aber natürlich auch Rücksicht auf ökonomische Restriktionen, personale Ressourcen und ge-gebene Infrastrukturen nehmen muss.
- Denkbar sind auch unterschiedliche Virtualisierungsansätze für unterschiedliche Stadien im Studium. Dies gilt ebenso für die Virtualisierungsunterstützung ver-schiedener Vermittlungsformen wie Vorlesung, Projektstudium, Seminar, Übung, Planspiel, Fallstudie, Praxissemester etc.
- Virtualisierung ist ein aufwendiger informationstechnischer und organisatorischer Prozess. Sowohl die erstmalige Entwicklung von virtuellen Lernwelten als auch ihre ständige Pflege erfordern einen hohen Ressourcen-einsatz und spezifisches technisches Know How. Kooperationsmodelle inner-halb eines Fachbereichs, einer Universität sind zu entwickeln, universitäts-übergreifende Kooperationsmodelle oder Make or Buy-Varianten sind abzuwägen.
3. Vertrauen
Die disziplinär breit gefächerte Vertrauensforschung betont in ihren Definitionen und Untersuchungen unterschiedliche Aspekte von Vertrauen. Die hier benutzte Konzeptualisierung resultiert aus der Verbindung der Definitionen von Schweer (Schw 1996, S.3 ff.) und Luhmann (Luhm 1989, S.17 ff.):
Vertrauen ist eine soziale Grunddisposition gegenüber anderen Menschen oder Institutionen mit individuell und situativ unterschiedlicher und beeinflussbarer Ausprägung. Vertrauen befähigt, die Komplexität, Kontingenz, Ungewissheit menschlichen (und organisationalen) Handelns zu mindern und stärkt so die Handlungsfähigkeit.
Diese Grunddisposition ist bei Personen in Form psychischer oder sozialer Einstellungen, bei Organisationen in Form von Traditionen, Politiken, Kulturen, Regelwerken, Rollenmustern, manifestiert, die das Gegen- und Miteinander zu anderen Personen und Organisationen aus dem Hintergrund mit bestimmen. Diese Dispositionen wirken wie spezifische Wahrnehmungsfilter (vgl. auch das lesenswerte Werk von Reemtsma – Reem 2008, S.30ff.). Sie ersetzen, überlagern, verkürzen oder ergänzen explizite Analysen, Argumentationsketten, Entscheidungsprozesse. Vertrauen ist in diesem Sinne also nicht Verführung zum Nichtwissen, ist nicht Verdummung, sondern die Fähigkeit, auf das Maß, den Umfang gewünschter oder notwendiger oder verarbeitbarer Informationen adäquat respondieren zu können mit der Überzeugungsleistung, dass die verbleibende Offenheit und Vagheit (und damit letztlich: Verletzlichkeit und Enttäuschungsgefahr) nicht zu Lasten des Vertrauenden missbraucht wird.
Die verwendete Arbeitsdefinition versteht Vertrauen als eine gestaltbare soziale Einstellung des Vertrauen-Gewährers zum jeweiligen personalen bzw. organisationalen (Gruppe und/oder Institution/System) Adressaten. Dabei ist es von zentraler Bedeutung, ob Vertrauen im Kontext einer interpersonalen Beziehung, in der Relation von Personen zu Organisationssystemen oder in interorganisationalen Beziehungen betrachtet und instrumentalisiert wird.
Vertrauensforschung ist derzeit überwiegend auf Aspekte von interpersonalem Vertrauen fixiert (Feld 1). Systemvertrauen (Feld 2) wird in relativ wenigen Beiträgen behandelt. Die Felder 3 und 4 (die Organisation als Gewährer von Vertrauen) werden im Kontext von Vertrauensforschung kaum thematisiert (eine gewichtige Ausnahme siehe ScTh 2003).
Vertrauen dient der Reduktion von Komplexität, macht handlungsfähig. Vertrauen „setzt das Bewusstsein voraus, dass die Welt, also der andere auch anders sein kann, als man glaubt“ (StVo 1997, S.218). Vertrauen basiert letztlich auf einem „Überziehen der vorhandenen Informationen“ (Luhm 1989, S. 26), um interaktions- und kooperationsfähig zu werden. Während Vertrauensaufbau in interpersonalen Beziehungen sehr stark auf der persönlichen Vertrautheit mit dem Gegenüber (Gewährer und Adressat von Vertrauen kennen einander) beruht, kann Systemvertrauen auch der fremden Person oder Institution gegenüber entwickelt werden, wenn bestimmte Regeln beachtet werden. Vertrauen basiert dann vor allem auf der Kenntnis der Rollendefinition, der Normensysteme und Funktionen des System-Gegenübers bzw. auf dem Vertrauen in das Urteil von besonderen Vertrauensagenturen wie zum Beispiel Stiftung Warentest. Diese Ausweitung der Vertrauensbasis ist stets dann notwendig und eine Chance, wenn die „zeitliche, räumliche und soziale Ausweitung von Interaktionen und systemischen Interdependenzen die Grenzen sozialer Bekanntschaften sprengt“ (StVo 1997, S.220), also die interagierenden Menschen einander unbekannt sind, „weil sie sie nicht zu Gesicht oder Gehör bekommen […] oder kulturelle Unterschiede das gegenseitige Verstehen beschränken“ (StVo 1997, S.221). Im Kontext von virtuellen Prozessen und Systemen sowie von Globalisierung kommt diesem Moment persönlicher Unvertrautheit von Interaktions- und Kooperationspartnern eine evidente Bedeutung zu.
Für den Aufbau interpersonalen Vertrauens sind personale und situationale Bedingungen zu differenzieren (Schw 1997):
Zu den personalen Bedingungen zählen:
- Die individuelle Vertrauenstendenz (-bereitschaft) des Vertrauensgewährers in definierten Lebensbereichen (z.B. Familie, Beruf) Vertrauen zu gewähren und
- das implizite Vertrauenskonzept (Soll-Vorstellung) des Vertrauensgewährers über den Vertrauensadressaten (z.B. Glaubwürdigkeit, Manipulationsintention, Wohlwollen).
Zu den situationalen Bedingungen, die zu beachten sind, rechnen:
- Machtverteilung (z.B. Reziprozität, Fairness, Vertrauensvorschuss)
- Beziehungsdauer (z.B. Vertrautheit, Qualität des Anfangskontakts)
- Freiwilligkeit (z.B. Kosten eines Vertrauensabbruchs, Sanktionsfähigkeit)
- Kommunikationsstruktur (z.B. formale vs. informale, offene Kommunikation, symbolische Kontrolle).
Für Aufbau und Pflege von Systemvertrauen werden analog organisationale und situationale Bedingungen differenziert (StVo 1997):
Die organisationalen Bedingungen umfassen:
- die organisationale Vertrauenstendenz (die von außen erkennbare Bereitschaft von Institutionen, auf der Basis von Vertrauen mit definierten Teilen ihrer Umwelt, analog zu den Lebensbereichen der individuellen Vertrauenstendenz, Beziehungen aufzunehmen und zu gestalten) sowie
- das implizite organisationale Vertrauenskonzept (im Sinne eines Soll-Konzepts des vertrauenswürdigen Gegenübers).
Für den Komplex der situationalen Systembedingungen wird auf eine Systematik von Strasser/Voswinkel zurückgegriffen (StVo 1997, 222), die durchaus handlungsrelevante Aspekte in die Vertrauensforschung einführen:
- Verhaltenskalkulierbarkeit,
- Optionen der Risikostreuung (z.B. mittels Versicherungsschutz),
- Verfügbarkeit von Vertrauensinstitutionen/-intermediäre (Treuhänder, Trust Center, Schufa, CHE),
- Grad der sozialen/technischen Integration (=Vertrautheit).
4. Vertrauen schaffen für virtuelles Lehren und Lernen
Lernen und Bildung heißt nach Wilhelm von Humboldt für den Lernenden „so viel Welt, als möglich zu ergreifen, und so eng, als er nur kann, mit sich zu verbinden“. Sowohl der Prozess nachhaltigen Lernens als auch das Ergebnis (das „mit sich verbinden“), die Reorganisation des Wissensnetzes, bedingt Vertrauen: Vertrauen der beteiligten Personen zueinander, Vertrauen in die eingeschalteten Institutionen und in die Situation, in der Lernen stattfindet (man „lässt an sich heran“, „man gibt ab“). Vertrauen ist also sowohl seitens der Lernenden als auch seitens der Lehrer und der Institutionen ein notwendiger Erfolgsfaktor. Denn Lehrer können ihre Rolle (indem sie moderieren, vermitteln, anregen, anleiten) vor allem dann erfolgreich ausüben, wenn ihnen seitens der Lernenden ein Grundvertrauen entgegengebracht wird und sie sich dieses zu erhalten wissen. Die Etablierung und Wahrung von Vertrauen in Lernsituationen gewinnt dann ein besonderes Gewicht, wenn Lernen/Lehren virtualisiert wird. In einer solchen Beziehung entfallen bzw. verkümmern viele Elemente personaler Interaktion (Körpersprache, Haptik, Taktiles, spontane Rückkopplung etc.), die ansonsten zur Identifikation von Interaktionsschwierigkeiten und zur flexiblen Reaktion auf sie genutzt werden. Dies ist besonders relevant in den Lernerfolg versprechenden Lehrformen wie Dialog, Interaktion, Experiment, die von der Offenheit der Lehr-/Lernprozesse profitieren. Speziell verliert in Situationen virtuellen Lernens personales Vertrauen tendenziell an Relevanz. Vertrauen in Systeme (technische Systeme und Institutionen) avanciert zum Erfolgsfaktor. Im Einzelnen geht es um Vertrauen der Lernenden und Lehrenden in
- die genutzten Produkte und Dienstleistungen (z.B. virtuelle Lernwelten),
- die beteiligten Personen (Lehrende, Lerner, Tutoren, Mentoren – auch wenn diese vorwiegend technisch vermittelt daherkommen),
- die beteiligten Institutionen (Administration, Gremien).
Speziell für interuniversitär organisierte virtuelle Lehre sind zusätzlich interorganisationale Vertrauensleistungen zu etablieren und zu pflegen.
In dieser so begründeten Sicht auf Vertrauensbildung werden im Folgenden Konzepte und Werkzeuge, die Vertrauensentstehung und –erhalt fördern können, gelistet. Im Mittelpunkt stehen Optionen für den Aufbau organisationalen Vertrauens für virtuelles Lehren und Lernen (an Hochschulen). Sie sind vornehmlich der (Wirtschafts-)Informatik, der Führungs- und Organisationslehre, der Pädagogik und der Vertrauensforschung geschuldet. Generelle Aussagen zur Wirkung der vorgestellten Instrumente sind natürlich problematisch. Ihre Diskussion im konkreten Einzelfall erscheint jedoch möglich und ist für die Konstituierung von virtueller Lehre erfolgsnotwendig.
Das Arsenal der Informatik offeriert eine Vielzahl von Konzepten und Lösungen, die zur Etablierung von Vertrauen in virtuelle Lernarrangements herangezogen werden können:
- Konfigurierbarkeit: Die individuelle Konfigurierbarkeit der Lernwelten erhöht die Chancen ihrer nutzerspezifischen, flexiblen Anpassung und Nutzung. Lernertypen, Lernumfeld, Zweck des Lernens (Anforderungsprofile) und sonstige situative Faktoren sind zur Steuerung des notwendigen „Parametermanagements“ heranzuziehen. Konfigurierbarkeit ist eine wichtige Voraussetzung zur Realisierung von Selbstorganisation des Lernens (durch Bestimmung individueller Lernwege, Lernfortschritte, differenzierte Lernkontrolle).
- Modularisierung: Konfigurierbarkeit setzt i.d.R. Modularisierung der Lernwelten voraus. Modularisierung eröffnet die Chance, Module in unterschiedlichen Kontexten (Konstellationen) mehrfach einzusetzen. Dies verbessert sowohl die ökonomische Position als auch das Vertrauen in die eingesetzten Lernwelten, da Mehrfachnutzung die Reputation erhöht, fördert zudem die Chance, Wiedererkennungseffekte (=Vertrautheit) zu erzielen.
- Integration: Der Integration medienbasierter Bildungsprodukte und -dienstleistungen in gewohnte Arbeitsumgebungen kommt große Bedeutung zu, schafft ein Gefühl der Vertrautheit.
- Virtualisierung: Virtualisierung, erweitert den organisatorischen Gestaltungsspielraum von Lern-, Entwicklungs- und Vermarktungsprozessen durch geeignete Optionen bzw. Modelle der räumlichen und zeitlichen Entkopplung von Aktivitäten und Interaktionen. Im Sinne von Vertrauen kann hier speziell die Reziprozitätswahrnehmung initialisiert werden: Personen, denen virtuelle Prozesse „erlaubt“ werden, nehmen wahr, dass ihnen auch weitgehend unkontrolliert engagiertes und diszipliniertes Handeln zugetraut wird. Wie Erfahrungen mit Telearbeit zeigen, wird diese Vertrauensvorleistung zurückgegeben.
- Gewährleistungstechnik: Vernetzte informationstechnische Systeme, Prozesse und Produkte müssen bestimmte Standards und Funktionalitäten sicherstellen. Zu diesen Gewährleistungsanforderungen zählen: Sicherheit, Echtheit, Verbindlichkeit, Vertraulichkeit der Übertragung, Kontrollierbarkeit der Prozesse, Immunität, Qualitätsbeleg (Gütesiegel, Zertifikat) für Prozesse und Produkte. Gewährleistung in diesem Sinne wird durch eine Vielfalt (wirtschafts-)informatischer, aber auch organisatorischer Konzepte und Werkzeuge unterstützt: Kryptographische Zertifikate bis ISO 9000-Zertifizierung.
- Servicesysteme zur Unterstützung von Lernprozessen: Services sind Dienstleistungsangebote, die Lernprozesse unterstützen. Sie helfen hier und auch in anderen Kontexten bei der Integration von Lernwelten, bei ihrer Administrierung, ihrer Beschaffung etc., fördern somit die Vertrauensgrundlage. Durch Unterstützung der Lehrer-Lerner-Relation, der Qualitätssicherung, der Administration, der Zugangsvermittlung zu virtuellen Lernwelten, z.B. in Form des Zentralen Bildungsservers oder von Portalen zu Virtuellen Lernwelten.
- Multimedia: Multimedialität ist primär zur Unterstützung von Lernprozessen zu gestalten. Pädagogisch-didaktische Prozess- und Qualitätsanforderungen sind umzusetzen und zu evaluieren. Konstrukte einer modernen Pädagogik, wie Selbstorganisation des Lernens, Experiment, „Stöbern“, Interaktion in Gruppen sind mittels Animation/Imagination in Erlebnis-Lernwelten zu realisieren.
- Interaktion: Interaktion ist im Sinne der Realisierung von Aktions-Reaktions-Schemata zwischen Personen und Systemen bzw. zwischen Personen zu etablieren. Hier sind geeignete Interaktions-Oberflächen und -Konzepte zu entwickeln, z.B. zur Etablierung von Lerner-Communities. Einfachheit und (technische) Assistenzunterstützung sind zentrale Anforderungen.
Die oben eingeführten vertrauensrelevanten Systembedingungen geben ein Raster zur Beschreibung vertrauensförderlicher Maßnahmen:
- Vertrauen in Personen und Organisationen verlangt Berechen- oder Vorhersehbarkeit. Im Umgang mit Organisationen definiert dies das Rollenkonzept, in das Organisationsmitglieder eingebunden sind. (In anderen Kontexten können Habitus, Lebensstil, Milieuzugehörigkeit analoge Wirkung entfalten.) Rollenkonzepte schaffen und signalisieren nach außen und innen Verhaltensgleichheit und damit Wiedererkennbarkeit / Identität von Organisationen und Produkten und Vorhersagbarkeit von Verhalten. Dies unterstützt Vertrauen. Einen besonderen Stellenwert gewinnen in diesem Zusammenhang (Vertrauensaufbau durch Kalkulierbarkeit) auch Instrumente wie Standardisierung. Das kommunizierbare Firmenimage i.S. von Marken oder von Logos spielt hier eine große Rolle. Die Kalkulierbarkeit des Verhaltens anderer (das muss nicht in Übereinstimmung münden) wird stabilisiert durch begründete Annahmen über die Motivationsstruktur ihres Handelns. In diesem Sinne wirken begründete Rollenerwartungen: Rollenvertrauen ersetzt bzw. überlagert und ergänzt Personenvertrauen. Die Person muss nicht vertrauenswürdig sein (wird oftmals, wie im Umgang mit staatlichen Beamten nicht einmal hinterfragt), wohl aber vertraut man, dass in bestimmten Situationen diese Person ihre Rolle spielt. Dies begründet, dass Vertrauen zu Organisationen auf eine größere Verbindlichkeit, Berechenbarkeit und Dauerhaftigkeit gründen kann. Diese Vertrauensressource aber muss erarbeitet, erworben werden. Die Kalkulierbarkeit kann ferner durch die Veröffentlichung vertrauensförderlicher Vergangenheitsinformationen (Meidung opportunistischen Verhaltens, prosoziales Verhalten in Kulanzsituationen, Referenz-Mitteilungen, Reputationseinschätzungen) gestärkt werden. In vergleichbarer Weise können Ankündigungen zur Reziprozitätsbereitschaft und zu Vorleistungen instrumentalisiert werden (das meint nicht, Leistungsscheine vorab, wohl aber Einblick in Lernmaterialien z.B.).
- Risiko ist leichter ertragbar, wenn andere ebenso handeln oder wenn andere Teile der Risikokonsequenzen übernehmen. Maßnahmen, die Risiko mindern, stärken Vertrauen. Das Signal, das Angebote von vielen anderen ebenso wahrgenommen werden, ein Signal also das Nachahmung nahelegt, wirkt vertrauenstärkend. Auch sind gezielte Versicherungen gegen materielle Verluste (Daten, Rechner), aber auch Angebote zur professionellen Sicherung (Datenschutz, -sicherheit) hier anzubieten.
- Wenn Agenten gezielt den Vertrauensaufbau in bestimmten Situationen betreiben bzw. das Vertrauen aus diversen Geschäften bündeln (poolen), um ihre Agentenkompetenz zu stärken, spricht man von Vertrauensagenturen. Institutionalisierte Vertrauensagenturen agieren wie Vertrauensintermediäre. Der Kunde vertraut der Reputation dieser Agentur. Bei Personalvermittlern, Warentestern, Investmentfonds, bei Gastronomie- und Literaturkritik, bei Bonitätsprüfung und im Hochschulranking sind einschlägige Entwicklungen beobachtbar. Die Vertrauensagentur fungiert als
- Berater (der im Negativfall seine Glaubwürdigkeit einbüßt) und/oder als
- Bürge (der im Negativfall mit eigenen Ressourcen einsteht).
Letztere Variante ist im Hochschulbereich schwer vorstellbar, ist aber im Kontext von Studiengebühren vielleicht eine logische Konsequenz. Ein bedeutendes Instrument im Bildungsbereich ist mittlerweile die Zertifizierung/Akkreditierung. Hier garantiert eine Organisation der Allgemeinheit gegenüber, dass Personen, Einrichtungen oder Produkte, die sie mit einem Zertifikat auszeichnet, hinreichend kompetent und vertrauenswürdig im Sinne definierter Kriterien sind.
- Für die erfolgreiche Implementierung virtuellen Lehrens/Lernens ist die Sicherstellung einer hinreichenden Integration in die gewohnten (alltäglichen) sozialen, organisationalen und informationstechnischen Strukturen anzustreben. Je vertrauter die eingeführten Systeme anmuten, desto wahrscheinlicher werden sie angenommen und nachhaltig genutzt. Die Tendenz zu spezifisch zwar optimierten Oberflächen, Navigationsvarianten, Befehlssprachen etc. erfreut zwar das Herz des Entwicklers, lässt den Nutzer aber schnell verzweifeln, wenn die intellektuelle Anstrengung mehr auf die Systembedienung als auf die inhaltliche Auseinandersetzung fixiert ist.
Das Vertrauen in virtuelles Lernen/Lehren ist aber leider nicht alleine abhängig von der Qualität des Vertrauensmanagements im Kontext der virtuellen Lernwelt. Das Vertrauen in die genutzten Informations-, Kommunikations- und Medientechnologien und ihre Anwendungen generell bestimmt das Vertrauen, das eine einzelne Anwendung erlangen kann, mit. Und dieses generelle Vertrauen kann (und sollte) dringend verbessert werden.
Literatur
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Udo Winand