In den neunziger Jahren kamen die Wissenschaftler langsam aus ihren Elfenbeintürmen heraus, jetzt gehen sie auf die Straße. In einem „March for Science“ werben sie am 22. April – weltweit – für offene und freie Wissenschaften sowie für die Beweispflicht von Behauptungen.
Sie gehen auf die Straße, um dem Pendelschlag gegen die Aufklärung etwas entgegen zu setzen, dem Pendelschlag, der dem Bauchgefühl, dem tausendfach verbreiteten Gerücht, den Lügen und dem bedingungslosen Glauben an Wahrheiten in weiten Teilen der Welt – einschließlich vereinzelt auch Deutschland – wieder die Oberhand über gesicherte, beweisbare Erkenntnisse gibt. Heute steht der Grundgedanke der Aufklärung in Frage, der uns in den letzten zwei Jahrhunderten ungeheure Erkenntnisse und Fortschritte in der Medizin, in der Mobilität, in der Psychologie des Menschen, beim Wohnen oder bei der Bildung von demokratischen, rechtsstaatlichen und damit der Willkür von Einzelnen entrückten Staatsordnungen gebracht hat. Das alles darf nicht aufgegeben werden. Und so ist der Marsch der Wissenschaftler keineswegs ein Lauf für den Erhalt der Arbeitsplätze (obwohl hier auch bereits eine Vielzahl von Einzelschicksalen, sei es in den USA oder in der Türkei, nicht geleugnet werden dürfen), sondern es ist ein Eintreten für ein Gesellschaftssystem, das uns allen so viel Wohlstand, kulturelle Teilhabe und körperliche Annehmlichkeit verschafft.
Natürlich wundert man sich manchmal, was für Dinge Wissenschaftler als gesichert herausbringen. Natürlich sind Wissenschaftler nicht immer objektiv – vielleicht manchmal auch aufgrund der Finanzierung ihrer Forschung. Aber wir würden noch als Ackervolk mit Ochsen die Felder pflügen, hätten allenfalls einen Barbier, wenn der Zahn weh tut, und könnten nach Sonnenuntergang nicht mehr lesen, kein Radio hören oder auf dem Smartphone daddeln, wenn die Wissenschaft in den letzten 200 Jahren nicht so gewaltig unser Leben verändert hätte.
Selbstverständlich muss die Wissenschaft auch mehr tun, als nur auf die Straße zu gehen. Sie muss immer wieder aktiv die Lösung der Probleme der Gesellschaft betreiben, darf dabei die negativen Folgen ihrer eigenen Arbeit nicht ausblenden und muss dafür wiederum neue Lösungen erarbeiten. Das bedeutet letztlich in einen steten Austausch mit allen Teilen der Gesellschaft treten, die Arbeit und die Ergebnisse offensiv und verständlich kommunizieren. Das nicht nur in Talkshows, sondern auf allen Kommunikationskanälen, die zur Verfügung stehen. Diese Forderung darf aber nicht missverstanden werden als notwendige Abhängigkeit oder gar Unterstellung unter die Direktiven der Politik als (vermeintliche?) Repräsentanten der Gesellschaft. Wissenschaft muss frei sein, spinnen dürfen, mit Themen experimentieren, an die heute ansonsten niemand denkt. Denn die Spinner von heute sind die spin offs von morgen. Und hätte der Staat im Mittelalter die Wissenschaft bestimmt, hätten wir heute Räder aus Holz und nicht aus Karbon kombiniert mit Gummi.
Wohlstand als Auskommen über die Grundbedürfnisse hinaus, Freiheit als Gegenteil von Unterdrückung des Denkens, Redens und Handelns, Rechtsstaatlichkeit als Abwehr vor Willkür gibt es nur als Ergebnis von freier Wissenschaft und daraus folgend Bildung aller Bevölkerungsschichten. Dafür lohnt es, auf die Straße zu gehen – oder einen Blog zu schreiben.
Mitgehen kann man in den verschiedensten deutschen Städten. Siehe hier.
Wider dem Postfaktischen! Freiheit in Verantwortung, ein Motto aufklärerischer und lutherischer Tradition hat einige hundert Jahre die Entwicklung unserer Gesellschaft geprägt und letztlich damit für eine Zivilgesellschaft in erheblichem Wohlstand gesorgt. Jedoch hat das Tempo der Entwicklung nicht alle Schritt halten lassen und so ist der sehnsuchtsvolle Ruf nach schnellen und einfachen Wahrheiten (oder Scheinwahrheiten) zumindest vielleicht sogar nachvollziehbar, wenn auch nicht teilbar. Wenn nun die Wissenschaftler aller Fakultäten aufbrechen, hinausgehen, den Elfenbeinturm verlassen um ihr Expertenwissen zu transformieren in wahrnehmbare und verstehbare Narrative, kann vielleicht der Beginn einer anderen Auseinandersetzungskultur gelegt werden.